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Ich suche nach Wörtern, die Gedanken malen

Ich war von zwei Büchern so inspiriert, dass ich diese Empfindung unbedingt mit euch teilen will.

Das erste Buch „Liebe Schreiben, herausgegeben von Ingrid Bauer und Christa Hämmerle“ ist ein wissenschaftliches Buch und befasst sich mit – so auch der Untertitel des Werks – Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts. Beleuchtet wird die Rolle der Korrespondenz für die Liebe und die Paarbeziehungen im Laufe der Jahrzehnte. Die Wissenschaftler, die im Buch zu Wort kommen, geben Auskunft über die sich im Laufe der Zeit wandelnde Kultur des Briefeschreibens zwischen Menschen, die sich nahe stehen.

Das zweite Buch „Schreiben Sie mir oder ich sterbe, herausgegeben von Petra Müller und Reiner Wieland“ ist eine tolle Sammlung von Liebesbriefen bekannter Persönlichkeiten, wie Sartre, Frieda Kahlo, Edith Piaf u.v.a., und es führt auf eine vielfältige Reise durch unterschiedliche Zeiten, beginnend in den 1860er/70er Jahren, bis in die 80er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Aus dieser Perspektive haben wir berühmte Frauen und Männer bisher nicht, jedenfalls selten kennenlernen dürfen.

Ich bin fast immer abhängig von Briefen gewesen. Ich sammelte als Teenager die Liebeswortsammlungen in meinen gebastelten Kisten. Später war ich gedanklich so damit verbunden, dass ich beschlossen habe, meine Liebesbriefe, Absatz für Absatz, ganz klein zu schneiden und in den Reisekoffer zu packen, um sie immer dabei zu haben. Bis heute leben die Liebeswörter dort und altern ganz friedlich. Es ist nicht nur eine Erinnerung an die frühere Liebeszeit, sondern mehr; durch das damalige Ausdrücken, weiß ich, wo ich mich befand als ich 18 war. Was hat mich damals bewegt und wo stehe ich gerade. Kurz: Es gibt eine Verbindung, einen Entwicklungsprozess zwischen früher und jetzt, den es ohne Liebesbriefe nicht so präzise gegeben hätte, weil man einfach vergisst, wie sich die Dinge damals angefühlt haben. 

                                               Ich?     Ich suche nach Wörtern,
                                                           die Gedanken malen,
                                               Du?      Du suchst nach Noten,
                                                           die in Einklang strahlen
                                               Wir?    Wir suchen nach Liebespoesie,
                                                           die Geschichten sammeln...1999, Georgien


Das ist ein kleines Stückchen von meinen alten Liebesbriefen, die ich vom Georgischen ins Deutsche übersetzt habe.

Was lösen eigentlich die Briefe aus? Wieso ist die Ausdrucksform so wichtig? In einem Buch lese ich folgendes:

                      „Briefe haben die Macht, unser Leben zu erweitern. Sie enthüllen Motive
                     und  ertiefen das Verständnis. Sie sind Beweisstücke. Sie ändern Lebensläufe
                     und schreiben die Geschichte um.“ Simon Garfield „Briefe!“

                                               Ich habe mit heißen Fingern nach dir gesucht,
                                               wie ein blinder Mann mit einem Bambusstock
                                               nach einem Pfad sucht.  
2000, Georgien

Im Gefühlsraum des 19. Jahrhunderts

Die Liebesbriefe dieser Zeit galten als „besondere ästhetische Kommunikationsformen“, oder „highly coded forms“. Mit der „highly coded forms“ sind schriftliche Signale, Zeichnen, Gesten gemeint. Damit wurden im 19. Jahrhundert Liebesbriefe als intimste Spielart gesehen.

Mit bestimmten Emotionsgeschichten sind diese verbunden. Dazu gehören Respekt, Fürsorge, Leidenschaft, Sehnsucht, Sinnlichkeit, Eifersucht etc..

Im Buch untersuchte Verlobungs-Korrespondenzen zeigen, dass Männer sehr aktiv und ausführlich an die Frauen geschrieben haben, um ihre Liebe zum Ausdruck zu bringen. Es war damals ein Muss. Die briefliche Kommunikation hatte die Funktion des näheren Kennenlernens von Braut und Bräutigam. Aber auch für eine Intensivierung der Beziehung, Austausch von Emotionalität.

Spannend war damals, für mich auch neu, dass der Briefcharakter neben Romantik einen gewissen erzieherischen, belehrenden Ton gegenüber seinen Adressaten hatte. Männer waren früher überwiegend rationaler und mächtiger als Frauen, nicht desto trotz hatten Sie tiefe Gefühle gegenüber der Weiblichkeit.

                        Sigmund Freud der Begründer der Psychoanalyse, schrieb im
                        Verlobungsbrief an seine spätere Ehefrau Martha Bernays:

                        „Sei mein, wie ich mir´s denke.“


                        Anton Schröfl schrieb an Emily Meister (1869/69):

                        „(...) In Dir sah ich mein Glück! Schon lange liebt ich heiß und innig Dich bevor
                        ichs wagte, Dirs zu offenbaren, und zu fragen schüchtern und bewegt: >> Gibt 
                        es eine Hoffnung wohl für mich? <<  Was Dein Auge damals sagte, was als  
                        Antwort über Deine Lippen schlich, es brachte mir das wahre höchste Glück.  
                       Und selbst dann, wenn sich mein Auge schließt, werd ich als letzte Worte   
                       sagen: Emilie, ich liebe Dich.“ „Liebe schreiben“

           
Im Gefühlsraum des 20. Jahrhunderts

Dieses Jahrhundert ist völlig anders. Dadurch, dass Frauen verstärkt in die Erwerbstätigkeit einsteigen, wird der männliche, erzieherische Ton in den Briefen langweilig. Ab 1970 fällt er gänzlich weg. Es findet quasi eine Neubewertung der Geschlechter in den Beziehungen statt. In der Briefkommunikation wurde oft „Kameradin“ oder „Gefährtin“ benutzt. Die Liebesbriefe haben nun vor allem die Funktion Zweisamkeit und Intimität im Sinne des „Wir“ herzustellen.    

                        Erich Maria Remarque an Marlene Dietrich
                        1937, von Porto Ponco nach Beverly Hills:

                        „Es ist Nacht und ich warte darauf, daß du von New-York anrufst. Die Hunde
                        schlafen um mich herum, und das Grammophon spielt Platten, die ich
                        gefunden hab - easy to love - i got you under my skin - awake from a dream -  
                        (...).Süßeste, manchmal nachts strecke ich den Arm aus und will deinen
                        Kopf näher heranziehen zu mir.

                         „Schreiben Sie mir oder ich sterbe“Liebe schreiben“ - Ursprung aus: „Sag mir,
                        daß Du mich liebst.. Erich Maria Remarque - Marlene Dietrich“ © 2003
                        Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 224 Seiten, KiWi Taschenbuch, 12,90 € D / 
                        13,30 € A

Im Gefühlsraum des 20 Jahrhunderts, Ende der Briefära, lese ich im Buch:


                        „Weißt du, es ist doch jammerschade, dass man in Briefen nicht lachen kann.“
                        oder „Überhaupt fehlt mir die Akustik sehr. Hast du einen
                        Cassettenrecorder? (…) Vielleicht konnten wir manchmal ein Band hin- und
                        herschicken.“
             

                        Die Autorin Ingrid Bauer untersuchte Briefe der 1960er bis 1980er Jahre. „Liebe schreiben“

Dann kommt das Telefon als Kommunikationsträger zwischen Frau und Mann. Und damit werden Menschen ungeduldiger gegenüber „Papierküssen“,  wollen langsam einen echten Kuss.

Nicht nur technische Entwicklungen spielten dabei eine Rolle, die Liebesbriefkultur langsam zur Seite zu schieben, sondern der Mensch veränderte sich selbst. Die Frauenbewegung und die Emanzipation der Frau definierten die Rollen von Frau/ Mann neu.

                        „Aus den Briefen sprechen vielmehr der Glaube und die Suche nach einem
                        wahren, innersten Brennpunkt – das eigene selbst, Männlichkeit und
                        Weiblichkeit, Liebe,   Beziehungen oder eine bessere Gesellschaft.“
Ingrid Bauer

Die Briefe verlieren ihre Stärke. Ihre Funktion, Zweisamkeit zu präsentieren und der Sinn eines „Wir“ wurde zum Ort einer Arbeit am eigenen „Ich“ verstärkt. Die Fragen, die vorher nicht gestellt worden sind, gewinnen an Relevanz. Warum gerade dieser Mensch? Warum solche Beziehungen?

Die Gesellschaft ist in eine Individualität eingestiegen. Von daher sind die Besitzmetaphern wie „Du gehörst mir, Dir alleine gehöre ich, wie glücklich ich bin, Dich zu besitzen“ nicht mehr im Gebrauch.
Und damit Adieu das Scheiben!

                        Alain Delon an Romy Schneider, Paris, Juni 1982:

                        „Adieu ma Puppele
                        Ich sehe Dich schlafen. Ich bin bei Dir an Deinem Totenbett. Du trägst eine
                        lange   Tunika, schwarz und rot, mit Strickereien auf dem Oberteil. Es sind
                        Blumen, glaube ich, aber ich schaue sie nicht an. Ich sage Dir Adieu, das
                        längste aller Adieus, mein Püppchen!“
„Schreiben Sie mir oder ich sterbe“

                         „Schreiben Sie mir oder ich sterbe“ / Ursprung aus: Quick 10.06.1982,
                        abgedruckt in "Romy Schneider - Ein Leben in Bildern. Entworfen von Renate
                        Seydel und gestaltet von Bernd Meier, Henschel Verlag, Berlin, 2007


Wie ist es im Gefühlsraum heute?

04-2017 Inga Khapava