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"Denken heilt" Albert Kitzler

Philosophie für ein gesundes Leben


Gesund denken mit der Weisheit der Alten
(Seite 30 - 33)


Vom Denken zu heilsamen Gewohnheiten

Bevor wir zu den einzelnen Leiden der Seele und ihrer philosophisch begründeten Überwindung oder Linderung kommen, ist es hilfreich, ein allgemeines Schema zu erläutern, auf das wir bei den einzelnen Kapiteln immer wieder zurückkommen werden. Es betrifft die Frage, wie wir mit Hilfe des Denkens und den dabei gewonnenen Einsichten und Weisheiten seelisches Leiden »heilen« können. Denn die Einsicht allein ist noch nicht die Heilung. Wir wissen viel und tun es doch nicht. Weise ist nicht, wer viel weiß, sondern wer danach lebt. In der einen oder anderen Form ist das Schema, das nachfolgend vorgestellt werden soll, auf nahezu alle seelischen Beschwerden anwendbar. Es bildete einen wesentlichen Bestandteil der antiken praktischen Philosophie in Ost und West.

Der erste Satz der »Gespräche« des Konfuzius lautet: »Etwas lernen und sich immer wieder darin üben, schafft das nicht Freude?«27»Freude« steht für Glück, Zufriedenheit, seelisches Wohlbefinden oder Gesundheit. Für die Philosophen der Antike war das Verbindungsstück zwi­schen Denken und seelischer Gesundheit das Einüben von Gewohnheiten. Dieses Eingewöhnen neuer Denk- und Verhaltensgewohnheiten, das Abgewöhnen und Umgewöhnen von als schlecht erkannten Mustern im Denken, Wollen und Handeln, war das philosophische Heilmittel für jede Art seelischen Leids. Es war der eigentliche Lernprozess auf dem Gebiet der praktischen Philosophie und der einzige Weg, seine Freude am Leben nachhaltig zu nähren und zu mehren. Wer keine Gewohnheit ändert, der ändert nichts.

Für Aristoteles sind wir nichts anderes als das, was wir tagtäglich tun. »Aus unseren Tätigkeiten erwächst unsere Haltung.«28Wir werden zu dem, was wir tun. Wir sind unsere Gewohnheiten. Dazu zählen insbesondere auch unsere Denkgewohnheiten: »Man wird wie das, was im eigenen Sinn und Denken herrscht – das ist das immerwährende Geheimnis«, heißt es in den altindischen Upanishaden.29Unsere Gewohnheiten sind unser Charakter. Sie sind nach Aristoteles unsere »zweite Natur«, die sich mehr oder we­niger über unsere Erbanlagen und frühkindlichen Prägun­gen, die »erste Natur«, legen und sie maßgeblich formen. Der Charakter ist etwas, »was sich … ausbildet «, eine Gewohnheit, die durch Wiederholung und Einübung ent­steht. Durch ein bewusstes Eingewöhnen eines bestimmten Denkens oder Verhaltens formen und verändern wir unse­ren Charakter und bilden unsere Persönlichkeit.30

Wodurch werden wir sportlich? Indem wir uns angewöhnen, regelmäßig Sport zu treiben. Wodurch werden wir gelassen? Indem wir uns abgewöhnen, uns über andere, das Schicksal oder irgendeine Sache unnötig aufzuregen. Wodurch werden wir mitfühlend? Indem wir uns angewöhnen, im anderen uns selbst wiederzuerkennen und die Sorgen anderer zu teilen. »Wandel heißt Wandel in der Gewohnheit«31, heißt es in einem Klassiker antiker chinesischer Philosophie.

Die meisten Gewohnheiten entstehen unwillkürlich und ohne darüber nachzudenken. Es sind verinnerlichte, häufig unbewusste Denk- und Verhaltensmuster, »irrationale Seelenelemente«, wie Aristoteles sie nennt.32Sie sind aber, und das ist die entscheidende Beobachtung des Aristoteles, nicht in Stein gemeißelt und für ewig festgelegt. Wir können uns durch unser Denken dazu entschließen, uns in Zukunft anders zu verhalten oder anders zu denken, und wenn wir es dann auch tun, uns umgewöhnen. Das meint Aristoteles, wenn er sagt, dass die verinnerlichten Denk- und Verhaltensmuster, der »Charakter«, in der Lage sind, »nach Maßgabe des befehlenden Rationalen dem Rationalen zu folgen«.

Ein Bild Platons aufgreifend, beschreibt ein anderer Philosoph diesen Vorgang so: »Da kommt es der Denk­kraft zu, nunmehr wie ein Wagenlenker das Gespann der zusammen aufgewachsenen Rosse, der Begierde und des Gefühls (irrationale Seelenkräfte), zu regieren und zu be­herrschen.«33Dieses Regieren aber geschehe, indem wir uns durch die Umstellung unserer Gewohnheiten selbst erziehen: »Denn in den unvernünftigen Kräften der Seele kann kein Wissen entstehen, sowenig als in den Rossen, sondern diesen wird die ihnen eigene Tüchtigkeit (Weisheit) durch eine Art unbewusster Gewöhnung zuteil, dem Wagenlenker dagegen durch vernünftige Belehrung.«34Dem »Wagenlenker« in diesem Bild entspricht unser vernünftiges Denken. Dieses kann »belehrt« werden und lernt eigentlich ständig dazu, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger, sei es durch Gespräche, Bücher, persönliche Erfahrungen oder eben durch philosophische Unterrichtung, die im Zitat gemeint ist. Die Weisen der Antike sahen sehr klar, dass die Einsicht und das Wissen zwar grundlegend und wichtig sind, um unsere Persönlichkeit zu entwickeln und etwas in unserem Leben zu verändern. Sie sind aber keineswegs ausreichend.

Hinzukommen muss, dass wir unsere »wilden Rosse« erziehen, das heißt die von »Begierden und Gefühlen« beeinflussten, häufig unbewussten Denk- und Verhaltensmuster verändern. Sie teilten daher die praktische Philosophie in zwei Teile: »das Wissen und die Seelenverfassung«. »Denn wer den Lehrgang durchgemacht und richtig begriffen hat, was zu tun ist und was zu meiden ist, ist noch nicht weise, und zwar nicht eher, als bis er eine innere Umwandlung durchgemacht hat, durch die seine Seele ganz mit dem, was sie gelernt hat, verschmolzen ist.«35

Der Transmissionsriemen zwischen der intellektuellen Einsicht und einer »gesunden« Seelenverfassung, also der Totalität sowohl unserer Einsichten als auch unserer Begierden, Gewohnheiten und Haltungen, ist somit die Übung. In der Bhagavadgita, einem zentralen Lehrgedicht des altindischen Weisheitsdenkens, gibt der Gott Krishna dem Helden Arjuna, dessen Wagenlenker (!) er ist, folgende Weisheit mit auf den Weg:

Wohl ist, o Held, zu zügeln schwer
Des »Herzens« Vielbeweglichkeit,
Doch bannet es, o Kuntis Sohn (Arjuna),
Die Übung und Besonnenheit.
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Ängste
(Seite 69 - 74)

Ein weiteres seelisches Leiden, das häufig gemeinsam mit Überlastung und chronischem Stress auftritt, sind Ängste. Die enge Verknüpfung der verschiedenen seeli- schen Leiden, die uns noch öfter begegnen wird, ist kein Zufall. Wie der Körper war das Seelenleben für die Alten ein lebendiger Organismus. Die verschiedenen Funktio nen stehen in enger Wechselbeziehung, so dass Störungen in einzelnen Bereichen des Seelenlebens regelmäßig Auswirkungen auf andere Bereiche haben. »Das ist die Haupt- quelle unserer Fehler«, sagte Seneca einmal, »dass wir alle bei unseren Entschließungen das Leben immer nur stückweise in Betracht ziehen, niemals das Ganze.«1

Dieser Sachverhalt hat seine Parallele in den verschiedenen Gesichtspunkten weisheitlicher Lebensführung und gesunden Denkens. Es gibt nicht die »eine« Weisheit, den »einen« rettenden Gedanken, der die Lösung bringt, sondern stets eine Reihe von Weisheitsaspekten wie Selbsterkenntnis, Maßhalten, naturgemäßes Leben, der rechte Augenblick, Selbstgenügsamkeit, Mitmenschlichkeit etc. Sie sind je nach den konkreten  Umständen  in bestimmter Weise zu  berücksichtigen, wenn  wir  in der  jeweiligen Situation angemessen und gut reagieren und seelische Be- lastungen reduzieren  wollen. Dieses komplexe Zusam- menspiel ist sowohl auf der Seite der gesunden Gedanken wie auf Seiten der verschiedenen seelischen Leiden zu beachten. Philosophie ist stets bestrebt, das Ganze in den Blick zu bekommen. Nichts aber ist bei körperlichen und seelischen Leiden so wichtig, wie Körper und Seele als eine komplexe, organische Ganzheit aufzufassen, auf die viel- fältigen Wechselwirkungen zu achten und kein Phänomen isoliert zu betrachten.

Die Ängste bildeten ein breites Thema im antiken Weisheitsdenken. Zwischen Furcht und Angst soll hier – wie schon in der Antike – nicht unterschieden werden. Ängste, die eine schwere Störung der Alltagsbewältigung zur Folge haben und rationalen Appellen und Überlegungen nicht mehr zugänglich sind, sind im Folgenden nicht gemeint. Für sie ist nicht die Philosophie, sondern die Psychologie zuständig. Nicht gemeint sind ferner die »gesunden« Formen warnender Vorsicht vor tatsächlichen Gefahren, die im allgemeinen Sprachgebrauch mitunter als Ängste bezeichnet werden: »Wachsamkeit im Gegensatz zur Furcht (ist) ein vernünftiges Ausweichen; denn fürchten wird sich der Weise niemals, wohl aber wachsam sein«, wie sich ein stoischer Philosoph ausdrückte.2

All das, was zwischen den genannten Extremen und Formen der alltäglichen Angst liegt, also das mehr oder weniger  bestimmte Gefühl  von einem  bevorstehenden konkreten oder diffusen Übel, unter dem wir leiden, das uns belastet, unser Wohlbefinden und unsere Freude beeinträchtigt, das soll Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen sein. Es soll nicht darüber spekuliert werden, inwieweit die Angst oder eine gewisse Form existenzieller Unsicherheit eine Grundbefindlichkeit des Menschen darstellt, der möglicherweise eine wichtige Funktion im Ergreifen  der  eigensten Möglichkeiten zukommt.  Dieses Thema wird zwar angeschnitten, wenn wir uns damit beschäftigen, wie das Nachdenken über die eigene Vergänglichkeit dabei helfen kann, Formen von Verlustangst in den Griff zu bekommen. Im Übrigen aber bleiben wir im Themenbereich der antiken praktischen Philosophie als »Seelenheilkunde« und konzentrieren uns auf die Frage, wie wir mit Hilfe vernünftigen Nachdenkens bestimmte »Alltagsformen« von belastenden Ängsten überwinden oder doch lindern können.

Beim Studium der antiken praktischen Philosophie fällt zunächst die Ausführlichkeit und Häufigkeit auf, mit der das Thema Angst behandelt wird. Menschen litten schon immer unter Ängsten. Wer aber Ängste hat, darin war man sich einig, der kann nicht glücklich sein und als seelisch »gesund« angesehen werden. Daher war den antiken Denkern die Überwindung der Angst eine der Hauptaufgaben heilender Philosophie. Epikur bestimmte menschliches Glück schlechthin als Abwesenheit von Schmerz und Furcht. Berühmt ist seine Formel von den »vier Heilmitteln«  gegen menschliche Trübsal und für die Wiedergewinnung des inneren Gleichgewichts: Das tetraphármakon (griech. tetra, vier; phárma­ kon, Heilmittel, Gegengift) besagt: »Immer sollen dir die vier Heilmittel zur Hand sein: Vor Gott braucht man keine Angst zu haben. Der Tod bedeutet Empfindungslosigkeit. Das Gute ist leicht zu beschaffen. Das Schlimme ist leicht zu ertragen.«3

Alle vier Heilmittel weisen einen deutlichen Bezug zur Angst auf. Die Angst vor »Gott« meint zugleich die Angst vor Schicksalsschlägen, denn die Menschen zur Zeit Epikurs verstanden Unglücksfälle als Strafe, Rache oder Laune eines Gottes. Die beiden letzten Heilmittel haben insoweit mit Ängsten zu tun, da Epikur davon ausging, dass alle Menschen nach dem »Guten« streben, darunter aber häufig Dinge verstehen wie Reichtum, Ehre, Macht. Sie müssen daher fürchten, sie nicht oder nur schwer zu errei- chen. Andererseits leiden viele Menschen unter der Angst, etwas Schlimmes könne ihnen zustoßen, wobei sie auch hier an Dinge denken, die nach Epikur bei genauerer philosophischer Betrachtung und gemessen an Leben und Gesundheit gar nicht zu fürchten oder doch leicht zu ertragen sind, wie Besitzverlust oder ein beruflicher Misserfolg.

 

Die Ursachen

Bei der Frage, woher die hier behandelten Ängste kommen und wie wir sie loswerden, stellten die Weisen der Antike zunächst fest, dass wir selbst diese Ängste wecken: »Du selbst schaffst dir die unbegrenzten Ängste und Begierden an«.4 (Epikur) Neben der Angst aus Unsicherheit, etwa vor öffentlichen Auftritten, unter neuen Kollegen, an einem neuen Wohnort etc., sind es vor allem unsere Vorstellungen von einem zukünftigen Übel, die uns Angst machen. Diese Vorstellungen gründen in Werturteilen, dass ein zukünftiges Ereignis ein Übel darstellt und körperliches oder seelisches Leid mit sich bringen wird. Oder wir bewerten das zukünftige Ereignis als positiv, so dass die Vorstellung, es könnte  ausbleiben, als etwas Schlechtes empfunden wird, das Angst macht. Diese Wertungen haften aber nicht objektiv dem künftigen Ereignis oder seinem Ausbleiben an, sondern wir fügen dem Ereignis diesen Wert bei. Ob ein angestrebtes Geschäft gelingt, ob unsere Präsentation Erfolg hat, ob wir bei der neuen Arbeitsstelle akzeptiert werden, ob eine Verabredung gut läuft, ob der Lebenspartner treu bleibt, das Kind das Abitur besteht etc., bekommt nur dadurch einen Wert, weil wir damit eine bestimmte positive Vorstellung verbinden, zum Beispiel die Vorstellung einer Belohnung. Misslingt das Geschäft, sind wir enttäuscht. Bevor dies geschieht, hegen wir in unseren Vorstellungen Hoffnung  und  zugleich  Furcht,  unsere Hoffnung könnte sich nicht erfüllen.

Solche Vorstellungen haben wir bei all unseren Unternehmungen, deren Erfolg oder Misserfolg wir nicht planen können, weil er nicht nur von uns abhängt. Es gibt tatsächlich eine Unzahl von kleinen und großen Unternehmungen, Plänen und Absichten, die unseren Geist und unsere Vorstellungen ständig bevölkern. So sind wir auch voller großer und kleiner Hoffnungen und als Kehrseite davon – jedenfalls latent – voller Befürchtungen. Dass wir aber hoffen und gleichzeitig fürchten, ist eine Folge davon, dass wir werten. Wie stark wir diese Wertung verinnerlicht haben, spielt dabei ebenfalls eine Rolle.

Aus dem zuvor geschilderten Zusammenhang wird verständlich, was der griechische Philosoph Epiktet meinte, als er sagte: »Nicht die Dinge selbst beunruhigen (beängstigen) die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen … Wenn wir darum gehindert, beunruhigt oder betrübt werden, so sollen wir nie in andern (Menschen, Dingen oder Ereignissen) die Ursache suchen, sondern in uns, das heißt, in unseren Vorstellungen!«5 Sein Schüler Mark Aurel verallgemeinerte diese Feststellung: »Die Grundverfassung einer Seele wird so sein wie die Vorstellungen, denen du nachhängst … Denn die Seele wird von den Vorstellungen gefärbt.«6

Haben wir eingesehen, dass wir selbst es sind, die mit unseren Werturteilen die Ängste hervorrufen, haben wir schon ein erstes Mittel für ihre Überwindung in der Hand. Es sind unsere Vorstellungen und Wertungen, unser Denken, das wir kritisch prüfen und dem wir eine andere Richtung geben können, wenn wir den Quälgeist der Angst loswerden wollen. Wie bei der Bewältigung von dauerhaftem Stress und Überforderung, so helfen uns auch hier wieder an erster Stelle das Hinterfragen und die Relativie- rung unserer Wertvorstellungen. Ferner die Mäßigung unseres Wollens und der regelmäßige Rückzug in die innere Geborgenheit als ausgleichendes Gegengewicht zu unseren Plänen, Bestrebungen und Aktivitäten im »äußeren« Leben.