Symbole der Würde und Resilienz

Interview mit Dr. Leon Tsvasman zu den Potenzialen nachhaltiger Verwertung belasteter und stigmatisierter traditioneller Symbole

„Es wird immer gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht“ Hermann Hesse

Einleitung
Erfahrungsräume in einem digitalisierten Umfeld, wie Social Media (digitale Kommunikationskanäle) verändern die Handlungsspielräume, aber auch die Wahrnehmung tradierter kultureller Praktiken. Dadurch werden die betroffenen Identitäten, Potenziale und Gemeinschaften transparenter, reflektierter und bekannter, aber auch anfälliger für externe Manipulationen durch Falschmeldungen („fake news“) oder Verschwörungstheorien. Die Menschen werden immer häufiger mit Gefahren, wie Hass, Stigmatisierung, Ausgrenzung und „alternativer Wahrheiten“, konfrontiert. Die erweiterte Komplexität erfüllt tradierte Ritualität mit zusätzlichen inhaltlichen Facetten. In diesem Interview mit dem Medienphilosophen Dr. Leon Tsvasman sollen Hintergründe und Zusammenhänge zwischen symbolischer Medialität tradierter Narrative und der Widerstandsfähigkeit traditioneller Gemeinschaften deutlich werden. Mit wissenschaftlicher Akribie werden spannende Perspektiven angesprochen und nachhaltig konstruktive Handlungschancen, resiliente Verhaltenspotenziale und Wege aufgezeigt, im Besonderen stigmatisierte Symbole mit zugewiesener Konnotation des Scheiterns – wieder - zu den Symbolen der Würde und Widerstandsfähigkeit zu machen.

Der interdisziplinär forschende Medienwissenschaftler und Ideengeber für eine humanistische also menschen-zentrierte Gesellschaft Dr. Leon Tsvasman lehrt an mehreren staatlichen und privaten Universitäten in Deutschland und den USA. Seine kybernetisch inspirierte und fundierte Forschung bezieht sich u.a. auf Innovation, Digitale Transformation, Medienethik und Informationspsychologie. Auch wenn Tsvasman gerne differenziert, bleibt seine methodische Haltung weniger analytisch und mehr holistisch, also „komplexitätsgerecht“ geprägt. Er ist Autor von mehreren philosophischen, populären und fachwissenschaftlichen Arbeiten.


Wir empfehlen davon die Werke:

Infosomatische Wende. Impulse für intelligentes Zivilisationsdesign
Verlag Ergon, 2021, 203 Seiten, broschiert / ISBN 978-3-95650-743-4

„Alles in allem also ein sehr lesenswertes Buch, das auf den gebildeten Leser setzt und sich damit leidenschaftlich gegen einen depravierten Zeitgeist, einen unbeweglichen (…) Medienapparat und einen deformierten Wissenschaftsbetrieb stellt - ein Buch, das nicht weniger als eine Bildungs-Revolution einfordert, ein dringender Einspruch gegen einen einseitigen Logik-Begriff, der immer zu kurz greifen muss, wenn er dem pulsierenden Leben entgegnet und begegnet - ein Buch mit einer anspruchsvollen Prosa, die sich zu erlesen und zu erarbeiten unbedingt rentiert und zu genießen ist.“ (Aus der Kritik von Andreas Egert)

AI-Thinking: Dialog eines Vordenkers und eines Praktikers über die Bedeutung künstlicher Intelligenz (Co-Autor Florian Schild)
Verlag Nomos, 2019, 168 Seiten, ISBN 978-3-95650-533-1

„Die Stärke des Buches liegt im interdisziplinären, essayistischen Gedankenaustausch.“ Markus Reinisch, Stimmen der Zeit 2019, 717

„Die beiden Autoren sind Ausnahmen: Der lösungsorientierte Universaldenker forscht auf dem Gebiet der kybernetischen Erkenntnistheorie, der anthropologischen Systemtheorie und der Informationswissenschaft und lehrt an Hochschulen zum Zusammenhang von Technik und Gesellschaft.“ (aus dem Klappentext)

Das große Lexikon Medien und Kommunikation. Kompendium interdisziplinärer Konzepte (Hrsg.)
Verlag Ergon, 2006, 425 Seiten, ISBN: 9783899135152

„Unterstützt von fachwissenschaftlich renommierten Autoren beinhaltet jeder Artikel präzise Begriffsbestimmungen, leserfreundliche Erläuterungen und hilfreiche Literaturhinweise. Es richtet sich an Studierende, Fachwissenschaftler und Praktiker gleichermaßen und bietet einen Überblick über den jeweiligen Forschungsstand, stellt bedeutende Kommunikationsforscher und ihre Werke vor und nennt Quellen, Literatur und Internetadressen zur weiteren Recherche. Der Vorzug dieses umfassenden Nachschlagewerks liegt in seiner neuartigen Konzeption, die mittels diverser Verweisebenen mehrere Zugänge zu den studienrelevanten Inhalten schafft.“ (Klappentext)


dpr Redaktion
Als Medienphilosoph forschen Sie zum interdisziplinären Zusammenhang von Medien, Ethik und Digitalisierung. Aus Ihren überaus spannenden Publikationen konnte ich entnehmen, dass Sie die valide Quelle ethischer Orientierungen mit der humanen Potenzialität in Verbindung bringen. Ihr Verständigungskonzept ähnelt dem der „Dialogphilosophie“ von Martin Buber, und Sie vertreten die explizit menschenzentrierte Position im aktuellen Diskurs der Medien- und Digitalisierungsethik. Als konstruktivistisch inspirierter Systemtheoretiker arbeiten Sie dabei mit den zum Teil durch Ihre eigene Positionierung geprägten Begriffen wie Intersubjektivität, Medialität, oder Potenzialität und greifen damit in die Bereiche jener offenen Komplexitätsdynamik, die unsere Gesellschaft zunehmend prägt. Dabei skalieren Sie viele tradierte Konzepte neu um, wobei sich die soziologisch geprägten Begriffe wie etwa „Identität“ etc. als redundant erweisen. Bemerkenswert ist, dass Sie mithilfe eigener Ansätze Problemkomplexe innovativ lösen können, die traditionelle soziologische Perspektive nicht ausreichend abzubilden vermag. Die exzessive Medialität sozialer Netzwerke und disruptive Dynamiken im Zusammenhang mit Digitalisierung und KI erhöhen offensichtlich die Vielfalt, verbergen aber auch Verzerrungs-Potenziale und Gefahren in sich (…)

Mir geht es bei diesem Kontext im Wesentlichen um die Widerstandsfähigkeit traditioneller Gemeinschaften, sprich die Potenziale und Gefahren im Zusammenhang mit neuen virtuellen oder semivirtuellen Communities, die von sozialen Medien getragen werden. Mit den von Ihnen verwendeten Begriffen ausgedruckt, geht es hierbei um die Potenzialität tradierter Symbole.

Hier wäre es besonders interessant zu untersuchen, wie sich die Bedeutung von Identitätssymbolen in virtuell erweiterten Handlungsräumen
im Hinblick auf die Gefahren, aber möglicherweise auch Chancen, verändert.

Dr. Tsvasman
Diese spannende Fragestellung würde sicher als eine aktuelle Forschungsfrage für die systematische Untersuchung taugen. Zwar gibt es genügend Ansätze dazu aus soziologischer Perspektive, aber keine nennenswerten interdisziplinären Erkenntnisse. Die Frage ist auch deshalb relevant, weil die traditionellen Communities sich nicht nur etwa durch die Online-Kommunikation oder virtuelle Erweiterung in Ihrer Dynamik ändern, sondern weil sich die Wirklichkeits-Komplexität erweitert, was Orientierungsprobleme hervorruft, deren bekannte Nebenwirkungen etwa „fake news“ oder Verschwörungstheorien sind. Zum Beispiel Hass und Hetze können aus den entsprechend verzerrten virtuellen Räumen auf den Alltag ausstrahlen, ohne dass sich die neuen Dynamiken in den Gemeinschaften selbst, also intern beobachten lassen. Sporadische Angriffe können Flashmob-Charakter bekommen, wenn Symbole mit zusätzlichen Inhalten etwa aufgrund von Verschwörungskonzepten „verkürzt“, missbraucht oder instrumentalisiert werden. Zum Verständnis determinierender Dynamik müssen meines Erachtens u.a. systemisch-kybernetische Ansätze herangezogen werden, die eine höhere Komplexität nicht nur besser begreifen, sondern auch im Hinblick auf Widerstandsfähigkeit also vorbeugend oder gar intervenierend entzerren lässt. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass es sich bei Communities im Endeffekt um die menschliche Potenzialität und intersubjektive Orientierung der betroffenen handelt.

Jedes Symbol ist eine symbolisch medialisierte Zuweisung, welche die involvierten Potenziale von echten Menschen trivialisiert, aber auch in einem ständigen ununterbrochenen Dialog mit neuen Inhalten, Ambivalenzen und Konventionen füllt (in Anlehnung an Martin Buber[1], Paul Watzlawick[2]). Eine initiale Zuweisung kann den von realen Führungspersönlichkeiten vordefinierten Idealen, Vorbildern, Haltungen oder wie auch immer konzeptualisierte Prinzipien entsprechen, aber je älter ein Symbol ist, desto vielfältiger lässt es sich intrinsisch „aushandeln“, oder extern manipulieren. Das Wesentliche bleibt jedoch: Zuweisungen reduzieren symbolisch die reale Komplexität der involvierten Potentiale menschlicher Subjekte. Ein Symbol, das einer Gemeinschaft zugeordnet ist, ist allerdings gerade deshalb praktisch, weil jede menschliche Community die reale, höchst individuelle und dynamische Selbstentfaltung ihrer Mitglieder symbolisch begleitet. Es gibt im Gegensatz dazu kaum Symbole für Personen, weil sich ein bestimmter Mensch kaum sinnvollerweise oder glaubwürdig trivialisieren lässt. Wenn ich irgend-eine lakonische Zeichnung mit Symbolcharakter mit Frau Sowieso in Verbindung bringe, erscheint die Betroffene den rezipierenden Beobachtern höchstens karikiert. In seiner Rolle als Vertreter einer Gemeinschaft wie Partei kann etwa ein Politiker in einer Karikatur trivialisiert werden, aber kaum abstrakt oder selbstinitiiert, sondern zum Beispiel auf den Zusammenhang mit irgend-einer medienrelevanten Entscheidung aus der kritischen Perspektive eines Beobachters hinweisend. Ein in dieser Funktion verwendetes Symbol, Narrativ oder Plakativ (ein Begriff das Sie in Ihrem letzten Buch „Infosomatische Wende“ eingeführt haben) ist in der Regel direkt oder abgewandelt mit dem erkennbaren Erscheinungsbild der jeweiligen Person verbunden.

Konzeptuelle Konventionen wie tradierte oder zugewiesene Selbst- oder Fremdbezeichnungen, Narrative oder Plakative mit der symbolischen Zuweisung im Zusammenhang mit Communities, trivialisieren somit grundsätzlich die offene intersubjektive Komplexität individueller Handlungs- und Erfahrungswelten betroffener Menschen. Dementsprechend ist auch jedes tradierte oder zugewiesene konzeptionelle Symbol, das mit einer Gemeinschaft verbunden ist, in dem Sinne legitim, dass die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bereits die individuellen Potenziale ihrer Mitglieder betrifft, indem sie ihre reale Komplexität symbolisch verkürzt. Einfacher zusammengefasst: Als Mitglied einer traditionellen, spontanen oder wie auch immer konzipierten Community haben Sie Rechte und Pflichten, egal ob diese explizit, implizit, tradiert oder zugewiesen sind. Diese konstituieren eine symbolische Identität, die Ihre persönlichen Chancen und Ihre Entfaltungsmöglichkeiten negativ, positiv oder mit einer gewissen Ambivalenz beeinflusst. Sowohl die jeweilige Zugehörigkeit als auch ihre Symbole trivialisieren und ermöglichen zugleich – schützen, gefährden, motivieren, emanzipieren etc.

Wie auch immer sich die reale Komplexität manifestiert, trivialisiert Medialität der Zugehörigkeit (gemeint sind alle relevanten Artefakte) reale Komplexität der involvierten Potenziale symbolisch. Die Zweckrationalität dieser Komplexitätsreduktion obliegt der gemeinschaftlichen Sinnproduktion. Aus der Aktualitätsperspektive der sich in einer Gegenwart befindlichen Menschen heraus geben diese ihre reale persönliche Potenzialität symbolisch zugunsten der Potenziale einer tradierten Gemeinschaft auf, und wenn diese historisch älter ist als ihre lebenden Angehörigen, hat dies unter Umständen wiederum einen Mehrwert für die individuelle Motivation, Potenzialentfaltung oder Anerkennung. Die oder der reale Angehörige wird in der Aktualität ihrer oder seiner Chancen aufgewertet. Auf der anderen Seite unterstellt er sich der Aufmerksamkeit nicht nur seitens der Gemeinschaft selbst, sondern auch seitens diverser Interessen außerhalb der Gemeinschaft, die diese mehr oder minder zu kontrollieren suchen.

dpr Redaktion
Kann die nachhaltige Verwertung von Symbolen mit dem historischen Zuweisungspotential die betroffenen Communities resilienter und ihre Angehörigen sicherer machen?

Dr. Tsvasman
Systemisch betrachtet, manifestiert sich die strukturell begründete Co-Evolution von Kulturalität und Medialität in beobachtbaren Trends, die spontane Emergenzen sichtbar machen. Oder, profan gesagt, zeigen kulturelle Trends und Moden eine gewisse innere ethische Integrität oder gar Weisheit. Ob solche Koinzidenz zufällig oder systematisch zu beobachtbar ist, gilt zu untersuchen.

Ein Beispiel: Sie erinnern sich an den Flüchtlingsstrom von 2015 und den Versuch marginaler Kräfte, die „Bärtigen“ zu stigmatisieren. Parallel dazu stieg die Popularität von Bärten in so genannten Hipster Kreisen, die zu einer der Säulen aktueller Mainstream-Kultur wurde. Ein Artefakt wie der Bart entfaltet je nach Kontext unterschiedliche symbolischer Potenzialität, weil er sowohl kultische (religiöse Symbolik) als auch modische Lifestyle-Dimensionen (Hipster-Bart) „abdeckt“ in einer Aktualität verortet, entfaltet eine gewisse Schutzpragmatik aufgrund von Verwechslungsgefahr, und der Bart wird von seiner kultischen Zuweisung emanzipiert. Die konstruktive Potenzialität der symbolischen Dimension darin wird nachhaltiger, was die betroffenen Communities resilienter - um Sinn der „besser geschützten“ Integrität betroffener menschlicher Potenzialität - macht. Ich sage „Potenzialität“, weil nicht nur die physische oder psychische Integrität der Betroffenen, sondern auch ihre Potenzialentfaltung ermöglicht wird, womit Selbstbestimmungsmöglichkeiten und Entwicklungschancen steigern.

Wenn die Zugehörigkeit also extern zugewiesen wird („hier wohnen die Nerds“ bzw. Mormonen, Hippies, Vegetarier, Intellektuelle, Japaner etc.), hat es meistens weder unmittelbar mit realen Viabilität oder Selbstregulation der traditionellen, spontanen und Lifestyle-Gemeinschaft noch mit jener seiner Angehörigen zu tun, intendiert solche Einmischung aus einer wie auch immer geprägten Aktualität heraus eine Kontrollintention. Im Extremfall werden den Angehörigen destruktive (und dahingehend auch etwa „beleidigende“) Eigenschaften zugewiesenen, welche aufgrund ihrer „verkürzten“ Komplexität weder der Gemeinschaft noch ihrer Potenzialität entsprechen, und ohnehin ausschließlich einzelnen Personen gelten. Wer eine Gemeinschaft als solche von außerhalb kontrollieren darf, obliegt zum Beispiel der aktuellen Gesetzeslage. Das Interesse eines externen Beobachters fußt auch auf historischen und ethischen Konventionen, und solches Interesse soll wollwollend sein. Wenn die externe Kontrolle mit der pauschalisierenden und negierenden Intention geschieht, so ist auch die in den symbolisch zugewiesenen Bezeichnungen („Jude“, „Christ“, „LGBT“ usw.) oder Symbolen („Judenstern“, „Kreuz“, „Regenbogenfahne“) begriffene Vorstellung für die vermeintlichen Angehörigen destruktiv, sofern deren jeweilige Integrität gefährdet wird, was kriminell wird, wenn die Angehörigen in ihrer körperlichen oder physischen Integrität gefährdet werden.

Der gangbare Weg, einer destruktiven Kontrolle zu entkommen, wäre, die extern zugewiesenen Symbole entweder aktiv abzulehnen und als historische Relikte des Scheiterns zu stigmatisieren oder sie mit den für die Gemeinschaft repräsentativen konstruktiven Inhalten mit realer Potenzialität zu ersetzen. Die sich historisch durchsetze Ablehnung zeigt sich in der Verbannung des „Judensterns“ nach Shoa. Die Stigmatisierung nutzt jedoch oft dem destruktiven Interesse jener unterschiedlichen ideologisch konsolidierten oder instrumentalisierten Kräfte, welche die feindliche Zuweisung des historischen Symbols als Symbol des Scheiterns rekontextualisieren und instrumentalisieren, und somit in einer bestimmten Aktualität als Gefährdungsinstrument wieder zu beleben versuchen, indem sie den Judenstern etwa auf den Objekten der Angehörigen jüdischer Einrichtungen aufbringen. Diese zweite Option wäre viabel, weil sie ausschließlich die dubiosen Inhalte einer kriminellen externen Zuweisungspraxis sanktioniert, ohne die konstruktive Potenzialität des Symbols abzulehnen. Und auch gesetzlich sollten deshalb nicht die Symbole selbst, sondern ausschließlich externe Narrative sanktioniert werden. Offensichtlich ist es handlicher und somit praktikabler, eine geometrische Figur in einer bestimmten Darstellungsart zu verbieten, als sich der Komplexität zu stellen und konsequent destruktive externe Zuweisungen als solche zu sanktionieren. Aber viele verkürzten Lösungen taugen angesichts steigender Komplexität nicht mehr, weil sie ungeahnte Verzerrungen hervorrufen und konstruktive Potenziale hemmen können, also wäre die vereinfachende Praxis zu überdenken.

Die eben signalisierte zweite Option der Entzerrung kann vor allem gelingen, wenn das Ausmaß der adressierten Verzerrung dermaßen radikal verkürzend und plakativ mit einer destruktiven externen Ideologie und ihrer Zuweisungspraxis mit ihren Narrativen korreliert, dass die darin transportieren Inhalte jeder Glaubwürdigkeit entbehren und in dem betroffenen Diskurs aus der sich etablierten emergenten Aktualität heraus in ihrer Irrelevanz ohnehin evident werden. Da die meisten dieser Narrative per Auftrag von Verschwörern entstehen, die ausschließlich eigene Interessen verfolgen, ist jeder Zusammenhang mit betroffenen Gemeinschaften ebenfalls zugewiesen. Wenn die intrinsische Tradition der jeweiligen Symbolik jedoch vielfältiger ist und einen Mehrwert für die Gemeinschaft nicht ausschließt, lässt sie sich aufrichten und im Sinn realer Potenzialität emanzipieren, wobei die einst zugewiesenen Merkmale ad absurdum gebracht und angesichts der sich weiter emanzipierten Komplexität als redundant und irrelevant „abzuperlen“ gehört.

So verliert etwa ein vermeintlicher „Symbol des Scheiterns“ seine stigmatisierende Aktualität, wenn es zum Symbol der Würde und der nachhaltigen Widerstandsfähigkeit wird. So wird dem destruktiven Gehalt der Fremdzuweisung jede Glaubwürdigkeit entzogen, und der „rehabilitierte“ Symbol nur noch in seiner realen Potenzialität mit der neuen Relevanz im Kontext einer aufgeklärten komplexitätsoffenen Aktualität neu positioniert, in der die im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit immer wichtiger werdende konstruktive Resilienz als Widerstandsfähigkeit aus der Potenzialität heraus an Bedeutung gewinnt. 

Die Singularität von Shoah mit dem in der Geschichte unvergleichbaren Ausmaß des Leids ist jedoch ein besonderer Grund dafür, mit dem Thema im Zusammenhang mit den als jüdisch geltenden Symbolen außerordentlich sensibel umzugehen, aber auch der herausragenden Chance bewusst zu sein, den destruktiven Bestrebungen vorbeugend und nachhaltig entgegenzuwirken zu können.

dpr Redaktion
Abschließend würde ich gerne anhand von realen Geschehnissen ein Summary bilden. Bei den nordamerikanischen Indianern (ich verwende hier bewusst nicht die politisch korrekte Begrifflichkeit „indigene Völker“) wurden die Menschen, welche die Massaker an ihnen Stämmen überlebt haben, in Reservate verbracht. Die Physis wurde damit gerettet, aber ihre Psyche kastriert, ihre Würde und Identität weitestgehend ausgelöscht und viele ihrer Symbole in der Bedeutung neutralisiert in Museen gesteckt. Gäbe es hier eine seriöse Chance diese potentialfreien Symbole mit ursprünglicher Ausstrahlung zu reanimieren, um dieser Bevölkerungsgruppe bei der Wiedererlangung der Würde behilflich zu sein?

Genau das Gegenteil erleben wir derzeit aktuell bei der Bürgerprotesten gegen das Regime im Iran. Die religiösen Symbole des Islam haben weltumspannend eine enorme Strahlkraft und konnten daher mit großer Dynamik spontan durch die Protestierenden zum Zeichen ihrer Widerstandsbewegung mit ähnlicher Strahlkraft in einen neuen Kontext umgeformt werden.

Repräsentativ sind für mich Ereignisse im Zusammenhang mit dem antisemitischen Missbrauch jüdischer Symbole, die ich hier in Anlehnung an einen Beitrag von Patrick Gensing (ARD) zusammenfasse: Eine Rednerin, die sich mit Sophie Scholl vergleicht; AktivistenInnen, die einen "Judenstern" tragen; Politiker, die als Kriegsverbrecher dargestellt werden: Immer wieder tauchen Nazi-Vergleiche auf. Solche Parallelen werden seit langem in "Querdenken"-Demonstrationen und darüber hinaus inszeniert, wie der Vorfall, dass AktivistenInnen sich einen „Judenstern“ auf ihre Kleidung nähten, auf dem das Wort „ungeimpft“ stand. Die AktivistenInnen beziehen sich historisch auf die Stigmatisierung von Juden während der Zeit des Nationalsozialismus, die einen solchen Stern mit der Aufschrift „Jude“ tragen mussten.

Nicht so eindeutig und in der Bewertung wesentlich schwieriger, dürfte es sich bei Symbolik verhalten, die bereits einen „Sequenzierungsprozess“ durchlaufen hat, soll heißen, dass ihre Botschaft über die Zeit verwässert ist und im öffentlichen und medialen Raum nur noch Teilausschnitte der ursprünglichen Bedeutung erfasst werden. Um bei dem Beispiel des Judenstern zu bleiben: Hier wäre es interessant zu eruieren, ob in der gesellschaftlichen Wahrnehmung dieses Symbol wirklich noch ganzheitlich in seiner bedeutungsvollen historischen Dramatik gesehen wird, wie es die jüdische Gemeinschaft selbst verortet. Als Metapher gesprochen: Lassen sich die Scherben eines zerbrochenen Kruges wieder zu einem Gefäß zusammenfügen und es dann in einem anderen Licht darzustellen.

Dr. Tsvasman
Auch hier ist Ihre durchdachte und auch sinnvoll positionierte Auswahl an repräsentativen Beispielen dennoch selektiv, außerdem setzt sie Wissen voraus, das ich nicht habe, deshalb kann ich auch an dieser Stelle nicht analysieren, denn nur das kumulierte Wissen von jedem einzelnen menschlichen Schicksal wäre repräsentativ. Und solange das nicht der Fall ist, reicht mein Wissen nur zu sagen, dass jedes menschliche Opfer eins zu viel war und ist, und sie nie vergessen werden sollten, und solange dies der Fall ist, haben ausschließlich Symbole Wert, die eine Kraft besitzen, Menschenopfer nachhaltig vorzubeugen und vor allem solche Potenziale widerstandsfähiger zu machen, die negierende Zuweisungen ausschließen. Aber wenn wir in dieser Orientierung zum Konsens kommen, war das Gespräch erfolgreich.

Ihr Beispiel mit dem zerbrochenen Krug erinnert mich allerdings an eine symbolische Praxis aus Japan, die Risse zerbrochener Geschirrstücke mit Gold zu füllen und damit symbolisch „Kraft, Individualität und Heilung“ zu beschwören. Das Gold steht hier stellvertretend für die Erneuerung, als Ressource, die eine wohlwollende Aufmerksamkeit hervorruft. Und darum geht es im Wesentlichen. Ein Artefakt wird zum Symbol, wenn es eine wohlwollende Aufmerksamkeit derer hervorruft, die es mit einer Subjekt-Potenzialität entlang ihrer Selbstentfaltung zu füllen bereit sind. Dabei wird die kostbare Ressource Aufmerksamkeit, welche jedes einstig kraftvolle Symbol ohnehin in sich trägt, mit neuen Potentialen wiederverwertet, ohne die Verletzlichkeit ihrer Integrität zu verdrängen. Und auch wenn dieses einmal zerbrochen wurde (Potenzialvernichtung), verdient es die neue Aufmerksamkeit (veredelt auch durch die implizite warnende Botschaft), außerdem darf das letzte Wort nicht dem Bösen überlassen werden. Interessanterweise trifft hier auch aus medienkybernetischer Perspektive der ästhetische Imperativ Heinz von Försters[3]„If you want to see, learn to act“ (Prinzip der Viabilität) auf den ethischen „Handle stets so, dass die Anzahl deiner Wahlmöglichkeiten steigert“ (Prinzip der Potenzialität). Die beiden Prinzipien, veredelt durch das ethische Potenzialdenken, stehen meines Erachtens für einen mindestens viablen Umgang mit Komplexität, welche uns eine sich digitalisierende, mit neuen Medien, Akteuren, Dimensionen und Tools wie KI und Metaverse & Co. exponentiell erweiternde Wirklichkeit beschert.


[1] Vgl. Buber, Martin (1973): Das dialogische Prinzip. Gütersloh

[2] Gemeint ist hier vor allem die Kommunikationsaxiom „Mann kann nicht nicht kommunizieren“, z.B. hier finden Sie eine Zusammenfassung: www.paulwatzlawick.de/axiome.html

[3] Der österreichische Physiker, Kybernetiker und Philosoph. Er wird „Sokrates des kybernetischen Denkens“ genannt.